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Presseerklärung

Franco Mazzucchelli: „Art To Abandon”

Ausstellung im nw9
Kunstraum der Stiftung Kunstwissenschaft Köln
Von 8. Juli bis 30. September 2022

Neue Weyerstrasse 9
50676 Köln


Presseerklärung von Dr. Corinna Thierolf
Emeritierte Hauptkonservatorin
Former Head of Postwar Art
Kunst ab 1945 | Postwar Art
Bayerische Staatsgemäldesammlungen

Der 2021 eröffnete Kunst-Projektraum nw9 in Köln entwickelt sich zu einer Stätte für die Entdeckung von Gegenwartskunst. Vom 8. Juni 2022 bis 30. September 2022 wird ein Überblick des Schaffens von Franco Mazzucchelli vorgestellt. Das Werk des 1939 in Mailand geborenen und dort lebenden Künstlers ist in den letzten Jahren international in großen Präsentationen gezeigt worden, darunter 2018 im Museo del Novecento in Mailand, 2020 der Kunsthalle Wien, 2021 im Centre Pompidou-Metz, seit 2021 im MACRO in Rom.

1964 überraschte Mazzucchelli im Anschluss an ein klassisches Studium der Malerei und inmitten seines Studiums der Skulptur an der Academia di Brera, das er bei Marino Marini absolvierte, die künstlerische Szene mit Interventionen, die keiner dieser Gattungen zuzuordnen sind: In der französischen Camargue legte er ein großformatiges spiralförmiges Objekt aus aufgeblasenem Polyethylen an den Strand. Publikum war nicht eingeladen, vielmehr hat der Künstler die Urfom einer Spirale in einem damals sehr modernen und günstigen Material für seine persönliche Betrachtung in die gewellten Sanddünen gelegt. Zudem betrieb er Feldforschung, denn es interessierte ihn, wer auf diesen ungewöhnlichen Gegenstand an diesem kunstfernen Ort auf welche Weise reagieren würde. Als was würde das Objekt verstanden werden? Wie würden sich Betrachter und „Ding“ miteinander in Beziehung setzen? 

Bis heute geht es Mazzucchelli um das Entdecken unerforschter Horizonte. Doch während seine Objekte in den Anfangsjahren und bis etwa 1979 ohne Gebrauchsanweisung in einem Kontext außerhalb der etablierten Kunstwelt zu finden waren, so fordern sie seither den Betrachter, wie im nw9, vornehmlich in Galerie- und Museumsräumen heraus. Der Akzent liegt also einerseits auf vergänglichen, performativen Prozessen, die sich in das Leben selbst einschalten, andererseits fordert er die Auseinandersetzung mit Kunstwerken, die sich objekthaft vom Umfeld abgrenzen. Dabei ist es erstaunlich zu beobachten, wie sorgfältig Mazzucchelli schon das Fortleben seiner frühesten Werke geplant hat, die er doch scheinbar so leicht und beiläufig, wie einen mit Luft gefüllten Ballon in die Kunstwelt geworfen hat.

In der kompakten Kölner Retrospektive kann man sich auf knapp 90 Quadratmetern ein Bild davon machen, wie offen und aufmerksam Mazzucchelli den Begriff des Kunstwerks untersucht, wie er immer neue Facetten entdeckt und diese dem Besucher für weitere Erkundungen zur Verfügung stellt. Passanten, die im verkehrsumtosten und von Büroräumen dominierten Bezirk des nw9 in Gedanken wahrscheinlich eher beim nächsten Geschäftstermin sind, werden hinter den rahmenlosen, bis zum Fußboden reichenden Fenstern des Raumes Videos von Mazzucchelli sehen, die einen anderen Horizont eröffnen. Es sind Dokumentationen seiner Interventionen im urbanen Raum, darunter 1971 vor der Produktionsstätte von Alfa Romeo in Mailand, wo er merkwürdige Gegenstände freigelassen hat. Wollte er diese Objekte ursprünglich Kindern zur Verfügung stellen, so weckten sie den Spielgeist der Arbeiter, die unerwartet aus der Fabrik kamen. Hier wie auch in den anderen Beispielen dokumentieren die Filme das wohl überlegte, gleichwohl spontan beschlossene, nicht choreographierte Geschehen. Vorbeikommende Menschen wurden nicht in die übliche Betrachter-Rolle gezwungen, vielmehr war Teilnahme möglich und sie durfte Freude machen, was als erstzunehmende Alternative zur starren Würde des Kulturbetriebs durchaus beabsichtigt war. Die Aktionen haben den ein oder anderen Verkehrsstau erzeugt und wohl mache Reflektion zum Leichten und zum Schweren, zum Innen und zum Außen, zu Stabilität, möglichem Druckverlust und zum Entstehen einer vormals utopisch erscheinenden Situation hervorgerufen, - letzteres zu beobachten im Film, der die Errichtung eines kolossalen Plastikkorridors in einem Platz in Cava Manara bei Pavia 1976 zeigt. Dank Mazzucchellis Intervention wurde auf einem ehemals offenen Platz ein Innenraum geschaffen, den Besucher wie einen transparenten Bauch erkunden konnten.  

Objekte, die der Künstler während solcher Aktionen eingesetzt hat, bestehen zum großen Teil nicht mehr. Doch Mazzucchelli produziert sie weiterhin, wobei er sie zuweilen in Form, Farbe und Größe variiert. Die Spirale der Ausstellung ist also kein Relikt seiner erwähnten Aktion in Südfrankfreich, die Kegel kein Relikt der Aktion in Volterra 1973. Die Objekte können daran erinnern, doch was zählt, ist die bei jedem Besucher jetzt in Kraft tretende Wirksamkeit einer plastischen Idee. Eine ähnliche Position nehmen die Kompositionen ein, auf denen Mazzucchelli Fotografien seiner Aktionen, zuweilen ein Stück Kunststoff der verwendeten Objekte und eine knappe Beschriftung zusammenfügt, die sein Tun betitelt und in einen größeren Werkkomplex stellt.

Einem klassischen Werkbegriff entsprechen noch am ehesten die bildmäßigen „Bieca Decorazione“, die seit den 1990-iger Jahren entstehen. Aber was sind das für Bilder, deren Inhalt Luft ist? Man müsste nur den Stöpsel öffnen, schon würde Luft entweichen und die ehrwürdige Geometrie des schwarzen Quadrats zusammenfallen.

Es sind eben, wie der Titel dieser Werke schon sagt, „Art To Abandon“ – eine Bezeichnung, die man auch treffend über das jetzt in Köln in exemplarischen Beispielen zu entdeckenden Werk Mazzucchellis stellen kann.

Der nw9, benannt nach seinem Standort in der Neue Weyernstrasse 9 in Köln, führt Impulse von Michael und Eleonore Stoffel weiter, die sich bis zu ihrem Tode 2005 und 2007 in beispielhafter Weise für die Vermittlung von Kunst Deutschland eingesetzt und in den 1970-iger Jahren auch das bekannte Terrassenhaus in Köln als Wohn- und Geschäftshaus bei dem Architekten Erwin H. Zander beauftragt haben.  


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For appointments, please contact info@nw9.space.

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Kunstraum der Stiftung Kunstwissenschaft Köln
Neue Weyerstraße 9
50676 Köln